Eine anderes Universum


„Wie geht’s dir? Wie ist es so in Afrika? Schick mal ein paar Bilder!“ So oder so ähnlich beginnen die meisten Konversationen, die ich zur Zeit mit Freunden und Familie nach Deutschland führe und es sind ja auch berechtigte Fragen. Meistens geht das Gespräch weiter, indem ich versichere, dass es mir gut gehe, ich mein Leben hier sehr genieße und rückwirkend frage, ob zu Hause auch alles in Ordnung sei. Und dann schicke ich noch die obligatorischen Bilder von lachenden Kindern, bunten Märkten und Elefanten, die ich in meinem Handy zu diesem Zweck unter „Favouriten“ gespeichert habe.

Doch was ist das für ein Bild, das ich dabei entstehen lasse? Letztendlich sind auch unsere Blogeinträge in einer Art verfasst, als lebten wir in einer unbeschwerten, bunten Blase, in der jeder Tag ein neues Abenteuer darstellt. Das entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit, jedenfalls nicht der ganzen. Täglich sehen wir um uns herum Probleme und Baustellen an allen Ecken und Enden des Lebens und sind konfrontiert mit Armut und Perspektivlosigkeit. Genauso, wie es hier unendlich viel Schönes zu entdecken und erleben gibt, gibt es auch Hässliches und Erschreckendes, das, je mehr ich in die Kultur eintauche, immer stärker zum Vorschein kommt. Daher möchte ich in diesem Blogeintrag ein paar der Erlebnisse und Eindrücke aus dem Jugendzentrum schildern, die mich zur Zeit sehr beschäftigen.

Zunächst zu den Jugendlichen selbst: Die meisten unserer Kinder gehören zu Mitarbeiter*innen von KDF oder stammen aus der direkten Umgebung, kommen also aus vergleichsweise guten Verhältnissen. Trotzdem werden viele von ihnen die zwölfte Klasse nicht besuchen, sondern versuchen müssen, Geld für ihre Familien zu verdienen oder verfrüht heiraten und Kinder kriegen.
Vor ein paar Wochen ist ein Mädchen auf mich zugekommen und fragte, ob wir uns einmal unterhalten könnten. Das Mädchen, nennen wir sie Rachel, ist 12 Jahre alt und geht in die 6. Klasse der nur ein paar hundert Meter von unserem Projekt entfernten Kaluli Primary School.
Rachel erzählte mir von von ihrer Familie und ihrem Leben. Von ihrem Vater, der vor ein paar Jahren bei einem Unfall ums Leben kam und von ihrer Mutter, die sich gerade im Krankenhaus befindet. Schließlich bat sie mich, ihr 20 Kwatcha für ihre Schulgebühren zu geben, die jedes Semester fällig werden. Umgerechnet sind das etwa 1,50 €.
Trotz ihrer herzerwärmenden Geschichte wollte ich ihr das Geld jedoch nicht direkt geben, sondern versuchte, mehr über sie zu erfahren. Ich fragte, wo genau sie jetzt in der Abwesenheit ihrer Mutter lebe und ob sie noch weitere Geschwister habe. Ob sie mich verstanden hat, weiß ich nicht, sie gab mir jedenfalls keine Antwort. Danach schlug ich ihr vor, zu unserem Projektleiter Jeff zu gehen. Dies lehnte sie jedoch vehement ab und zog sich sichtlich in sich zurück. Ich hatte Angst, dass sie weglaufen würde, ohne Hilfe bekommen zu haben und versprach, ihr die Schulgebühren zu bezahlen.
Am nächsten Tag machte ich mich also auf den Weg zu ihrer Schule und suchte den stellvertretenden Schulleiter auf, der netterweise das Geld entgegennahm. Ich fragte ihn, ob er mehr über Rachels Geschichte wisse, was er verneinte. Das einzige, was er mir sagen könne, sei, dass sie ein Stück entfernt in den Hügeln wohne. 
Das Leben in diesen Hügeln ist recht ärmlich. Die meisten Menschen, die dort leben, versorgen sich selbst und haben weder fließendes Wasser noch Strom. Sie kommen weitestgehend ohne Bargeld aus und brauchen es nur für Kleidung, ein paar Lebensmittel wie Zucker oder Öl und eben auch die Schulgebühren für ihre Kinder. Doch selbst für diese rudimentären Dinge reicht das Gald oftmals nicht aus und ich hoffe sehr für Rachel, dass sie ihren Mut behält, sich eigenständig nach Hilfe umzusehen.

Doch selbst wenn, anders als bei Rachel, Eltern ihren Kindern die Schulgebühren bezahlen und ihnen einen Abschluss ermöglichen können, ist noch nicht gesagt, ob sie damit auch eine weiterführende Schulbildung bekommen. Plätze an Universitäten und Ausbildungsstätten sind rar und teuer und das Leben in der Stadt ist ebenfalls nicht gerade kostengünstig, zumal es keine Stipendien oder staatliche Unterstützung für Studierende gibt.
Und selbst wenn die jungen Menschen es schaffen, ihr Studium erfolgreich zu absolvieren und vielleicht sogar zu promovieren, bietet der Staat nicht genug Stellen, um alle Absolventen einzustellen. Die Folge sind eine wachsende Zahl gut ausgebildeter Akademiker, die auf der Suche nach Arbeit das Land verlassen oder in den Städten als überqualifizierte Tagelöhner zum Hungerlohn arbeiten und vergeblich auf eine freiwerdende Stelle warten. Der Sohn eines uns bekannten Tischlers ist beispielsweise studierter Krankenpfleger, wartet jetzt jedoch seit drei Jahren vergeblich auf eine Stelle in einem Krankenhaus und arbeitet nun bei seinem Vater in der Werkstatt mit. Und so wie ihm geht es vielen. Den Daten von Trading Economics zufolge hat Sambia eine Arbeitslosenquote von 7,8 % mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 15,35%, was jedoch ausschließlich registrierte Arbeitssuchende mit einschließt. Die Dunkelziffer dürfte also wesentlich höher sein, zumal nicht einmal alle in Sambia geborenen Menschen vom sambischen Äquivalent des Einwohnermeldeamts registriert werden.

Vor diesem Hintergrund tut es weh, mit ansehen zu müssen, wie sehr manche Kinder im Jugendzentrum sich in der Schule anstrengen und zugleich zu wissen, dass die wahren Herausforderungen für sie erst noch kommen werden.
Es gibt da einen Jungen, Levi, der gerade vierzehn Jahre alt geworden ist und jeden Tag zu uns ins Jugendzentrum kommt. Meistens bringt er seine Schulsachen mit, um uns in einer ruhigen Minute zu zeigen, was er gerade lernt. Manchmal hat er auch einen Brief an uns dabei, in dem er über sein Leben schreibt und seltener einen Zettel mit Fragen, die wir ihm beantworten sollen. Wer hätte gedacht, dass wir noch einmal wissen müssen, was eine Polyglykolsäure ist? (Das musste ich übrigens googeln...)
Wie glücklich wäre jede*r Lehrer*in, Levi unterrichten zu dürfen! Leider haben seine Eltern nicht genug Geld, ihm einen Abschluss zu ermöglichen und er muss ab dem nächsten Semester selbst Geld verdienen, um sich seine weitere Schulbildung finanzieren zu können. Sein Wunsch ist, später einmal Journalist zu werden und die Welt zu sehen. 

Ein anderer Junge kommt ebenfalls regelmäßig ins Jugendzentrum. Als wir ihn zum ersten Mal sahen, fragten wir uns, warum er so mager sei. Wir ließen Nachforschungen anstellen und wie sich herausstellte, leidet er an einer Sichelzellenanämie. Das ist eine vererbte Verformung roter Blutkörperchen, die zu einer Unterversorgung der Organe mit Sauerstoff und Blutgerinseln in den Gefäßen führen kann. Sichelzellenanämie ist im Süden Afrikas recht stark verbreitet und, da sie eine Resistenz gegenüber Malaria darstellt, in abgeschwächter (heterozygoter) Form durchaus als evolutionären Vorteil zu betrachten.
Für unseren Jungen bedeutet die Krankheit jedoch eine mit Schmerzen verbundene Störung seiner geistigen und körperlichen Entwicklung, sowie eine hohe Anfälligkeit für weitere Krankheiten. 
Er ist 18 Jahre alt, wie er Clara und mir beständig versichert, und wünscht sich eigentlich eine Beziehung. Dem steht jedoch im Wege, dass man ihn auf den ersten Blick eher als Prä-Teen einschätzen würde und er aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung mehrere Klassenstufen wiederholen musste, sodass er zur Zeit die 7. Klasse der Kaluli Primary School besucht. 
Ob er es schaffen wird, die Schule erfolgreich abzuschließen und die von ihm ersehnte Familie zu gründen? Ich weiß es nicht, aber es hilft nicht, dass seine Eltern ihn weder mit Medikamenten noch der ausgewogene Ernährung ausstatten können, die er bräuchte.

Wie anders ist da unsere Lage! 
Sollten Clara oder ich hier krank werden, werden wir mit der besten medizinischen Versorgung ausgestattet, die wir in Sambia kriegen können und im Notfall sogar zurück nach Deutschland transportiert. Auch bei allen anderen Problemen gibt es ein ganzes Netzwerk von Menschen, die sich um uns kümmern werden. Von unseren Kollegen bei KDF, über unsere Mentorinnen, bis zur deutschen Botschaft in Lusaka und Brot für die Welt in Deutschland werden sich alle für unser Wohl einsetzen. Von unseren Familien und Freunden zu Hause einmal ganz abgesehen.
Und im August, wenn wir wie geplant wieder nach Deutschland zurückkehren, werden wir anfangen, uns um unseren weiteren Karriereweg zu kümmern. Wir werden studieren, wobei uns unsere Familien und sogar der Staat unterstützen werden, wenn wir Glück haben bekommen wir sogar ein Stipendium und nach etwa fünf Jahren werden wir unsere Diploma in der Hand halten. Damit werden wir in den deutschen Arbeitsmarkt eintreten, der sich geradezu um gut ausgebildete Fachkräfte reißt, und wir werden die Qual der Wahl haben und uns die Rosinen herauspicken können. 
 Unsere Kinder in Sambia werden indessen hierbleiben und versuchen, ihr Leben zu machen. Sie werden allen Widrigkeiten trotzen, welche sich ihnen in den Weg stellen, oder daran Zugrunde gehen.
Deutschland – das ist für sie ein anderes Universum und manchmal frage ich mich, ob sie damit nicht sogar Recht haben. Vielleicht sind wir wirklich Außerirdische. Vielleicht sind wir wirklich abgehoben von der Realität und der Härte, die das Leben zeigen kann, unterwegs auf einem Luxusraumschiff, das zu verlassen wir uns nicht zu träumen wagen und ohne zu realisieren, dass unser Treibstoff das Leid unserer Mitmenschen ist.

Kommentare

  1. Ein Auslandsjahr ist nicht immer leicht, abgesehen von dem Heimweh das man eventuell zwischendurch verspürt, ist es eine Horizonterweiterung in vollem Maße - positive Aspekte wie die neue Kultur kennezulernen und mit neuen Menschen zusammenzuarbeiten sind sicher immer eine gute Erzählung wert. Aber auch die bedrückenden und schwierigen Aspekte lernt man kennen. Umso schwerer wird es, die Balance zu finden zwischen der Fröhlichekti und dem Gefühl der Hilflosigkeit, denn nur sehr begrenzt kann man als Individuum den Menschen vor Ort helfen. Ich verstehe, dass du gerne von den positiven Erlebnissen erzählst (nicht anders ging es mir während meines Ausalndsjahrs in den USA). Doch versuche in Erinnerung zu behalten, dass du Freunde hier zu Hause hast, die auch die schwierigen Aspekte des Jahres hören und verstehen wollen- um spätestens dann aufzuwachen und festzustellen, dass unsere Unzufriedenheit mit Alltagsdingen doch größtenteils unberechtigt und unverhältnismäßig ist.
    Ich hoffe, du findest die Balance zwischen der erdrückenden Situation von vielschichtigen sozialen Problemen, die sich dir offenbart haben und sicher noch weiter offenbaren werden, und dem Wissen, dass du allein durch deine Anwesenheit und durch dein Engagement im Jugendzentrum schon viel für die Kinder tust. Ich bin mir sicher, sie sind unheimlich dankbar für die Zeit mit dir, denn du bist eine mutige, inspirierende und so empathische Person Charlotte. Hör nicht auf, die Welt ein Stück weit besser machen zu wollen - es ist die richtige Einstellung, auch wenn das viele Menschen hier (geblendet durch Karrierewahn und Absicherung des eigenen Wohlstands) nicht so recht verstehen wollen.
    Und zuletzet möchte ich dir noch sagen, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe - egal wann, egal wie schön oder schwierig. Ich bin da.
    Fühl dich ganz fest umarmt,
    Deiner Marie

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